Kommt doch alle, reicht nicht

Johanna Schwanberg im Gespräch mit Eva Böhm, Sigrid Kundela und Monika Wagner

„Öffentlich zugänglich, barrierefrei und inklusiv, fördern Museen Diversität und Nachhaltigkeit“ – so eine zentrale Prämisse der neuen ICOM-Museumsdefinition. Sind Museen aber wirklich bereits so inklusiv, wie die Museumsszene es gerne hätte? Was fehlt, was stört und was begeistert Menschen mit Behinderungen bei ihren Museumsbesuchen? Was hält Menschen, die aus bildungsferneren Umfeldern kommen, davon ab in Museen zu gehen? Welche sichtbaren und unsichtbaren Barrieren existieren nach wie vor in Museen?

Im Gespräch mit ICOM-Österreich-Präsidentin Johanna Schwanberg sprechen drei Expertinnen über ihre Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Museen:

  • Eva Böhm, Gebärdendolmetscherin und Geschäftsführerin von WITAF,
  • Sigrid Kundela, Gründerin der Selbsthilfegruppe für Schädel-Hirn-Trauma-Patient:innen, und
  • Monika Wagner, Gründerin von „Hunger auf Kunst & Kultur“.

Aus jeweils unterschiedlicher Perspektive schildern sie positive Erlebnisse, erzählen über gelungene Kooperationen und Projekte. Sie weisen aber auch auf Fehlstellen und Desiderate hin. Vor allem bringen Böhm, Kundela und Wagner kreative Vorschläge, wie Inklusion in Museen noch intensiver gelebt werden kann und was es dazu dringend benötigt.

Johanna Schwanberg: Die neue ICOM-Museumsdefinition zählt Barrierefreiheit und Inklusion zu den wichtigsten Zielen, die es für ein gelungenes Museum der Zukunft, in dem alle Menschen sich willkommen fühlen, zu erreichen gilt. Wie weit sind wir auf diesem Weg?

Monika Wagner: Ich verfolge die Entwicklung in Bezug auf Inklusion in Museen seit über 20 Jahren und meine, dass sich da sehr viel getan hat. Die Museen sind eindeutig am richtigen Weg, wobei es natürlich immer noch Luft nach oben gibt. Uns von „Hunger auf Kunst &  Kultur“ war in erster Linie Inklusion im Sinne des Zugangs für Menschen, die es sich nicht leisten können, ein Anliegen. Erfreulich dabei: In den letzten Jahrzehnten sind viele Museen unserer Kooperation beigetreten, allerdings haben wir bemerkt, dass Geld nicht die einzige Barriere ist, sondern dass es viel mehr braucht, damit sich Menschen in Museen willkommen fühlen. Oft ist die Museumsarchitektur, die etwa an riesige Tempel erinnert, abschreckend, so dass Menschen nicht hineingehen, auch wenn sie keinen Eintritt bezahlen müssen.

Eva Böhm: Als Geschäftsführerin von WITAF kann ich ausschließlich für Menschen, die eine Hörbehinderung haben und Gebärdensprache verwenden, sprechen. Wir hatten einzelne Kooperationen bereits lange bevor der Begriff Inklusion Einzug in die Museumwelt gefunden hat. Ich bin immer auf offene Ohren gestoßen, aber oft ist die Finanzierung eine Hürde, sowohl für die Institutionen als auch für die Besucher:innen. Gehörlose sind von einer starken Bildungsdiskriminierung betroffen, viele haben einkommensschwache Situationen und da ist es sehr wichtig, dass der Museumsbesuch und die Führung keine Kosten verursachen.  Besonders wichtig ist – abgesehen von der wegfallenden finanziellen Hemmschwelle – dass die jeweilige Zielgruppe von dem jeweiligen Angebot auch erfährt. Oft sagen die Museen, sie haben ein spezielles, auf eine Zielgruppe ausgerichtetes Vermittlungsprogramm entwickelt, aber es kommen keine Leute. Das ist ungemein schade. Bei uns funktioniert es deswegen so gut, weil wir die Programme als NGO oft mit den Museen gemeinsam erarbeiten und die Kunstvermittler:innen dafür sensibilisieren, was es für eine Führung mit Gehörlosen braucht. Zugleich kommunizieren wir über unseren Newsletter und die Sozialen Medien entsprechend breit.

Sigrid Kundela: Für Menschen mit einem Schädel-Hirn-Trauma, für die ich spreche, gibt es nach wie vor sehr viele Hindernisse. Zum einen ist das der hohe Eintrittspreis. Wenn unser Verein die Kosten nicht tragen würde oder die Museen die Führungen, wie es mitunter der Fall ist, nicht gratis anbieten würden, könnte niemand mitgehen. Oft fehlt aber auch die Werbung. Oder die Menschen kommen nach einem ersten Versuch nicht wieder, weil die Führungen so gestaltet sind, dass sie für Menschen mit einem Schädel-Hirn-Trauma zu anstrengend sind.

Johanna Schwanberg: Die Vermittlungsprogramme sind also oft noch nicht inklusiv genug?

Sigrid Kundela: Manche sind gut, aber viele Vermittler:innen in Museen wissen überhaupt nicht, was wir brauchen würden, damit wir der Führung gut folgen können und es ein bereichernder Ausstellungsbesuch wird. Ich wünsche mir, dass wir nicht mit so vielen Jahreszahlen und vortragsähnlichen Wissensinhalten konfrontiert werden, sondern Menschen mit Schädel-Hirn-Trauma zuerst einmal gefragt werden, was sie über ein Kunstwerk wissen wollen. Die Programme sollten gesprächsartig ausgerichtet sein.

Johanna Schwanberg: Wäre es nicht für alle Menschen von Vorteil, wenn Vermittlungsprogramme dialogisch angelegt sind?

Eva Böhm: Oft wird unter Inklusion verstanden, dass man sich einer bestimmten Zielgruppe anpassen muss, aber letztendlich ist es ein Benefit für jedes Vermittlungsangebot, wenn ein bisschen langsamer gesprochen wird. Positiv ist auch, wenn zwischen Zeigen und Erklären abgewechselt wird, so dass die Menschen in Ruhe schauen können und erst dann eine Erklärung bekommen. Wenn wenige ausgewählte Werke ausführlich betrachtet werden, dann kommen plötzlich inklusive Momente zustande. Im besten Fall bezieht sich Inklusion auf eine diverse Gruppe – auf ganz unterschiedliche Menschen, die aufgrund der Gruppendynamik mit einem Mehrwert aus dem Museum gehen. Im Zentrum steht dann nicht nur, dass sie ein Museum besucht und etwas gesehen haben, sondern das Gefühl, mit einer Gruppe gemeinsam durch das jeweilige Haus gegangen zu sein.


Monika Wagner: Aus meiner Sicht soll es beides geben: ein spezielles Programm für einzelne, jeweils unterschiedliche Zielgruppen, und dann Angebote, die sich an alle gemeinsam wenden und wirklich inklusiv sind. Wir dürfen Museen nicht überfordern und müssen im Auge behalten, dass ein einzelnes Museum nicht alles machen kann, besonders wenn es ein kleineres ist und nicht so große finanzielle Ressourcen hat. Manchmal ist weniger mehr.

Johanna Schwanberg: Können Sie das konkretisieren?

Monika Wagner: Als Museum muss ich mich fragen, welchen Schwerpunkt ich in Bezug auf Inklusion setze, und dann ist es wichtig, sich ganz auf die Community einzulassen, um herauszufinden, was diese benötigt. So wie wir es bei unseren Projekten von „Kultur-Transfair“ machen, bei denen wir ein Museum oder eine Kultureinrichtung mit einer sozialen Einrichtung verbinden, die dann über einen längeren Zeitraum gemeinsam arbeiten. Menschen mit psychischen Erkrankungen sind komplett anders durch ein Museum zu führen als gehörlose Menschen, die Gebärdensprache verwenden. Es ist großartig, wenn viele Museen jetzt Angebote für Inklusion schaffen, aber ohne die Communities, die das betrifft, zu kennen, macht es wenig Sinn. Nur zu sagen, kommt doch bitte alle, das wird nicht reichen. Der Inklusionsgedanke gilt auch für Menschen, die nicht von hier sind. Häufig wundern sich die Kultureinrichtungen, warum Menschen mit Migrationshintergrund sie nicht besuchen, aber diese Menschen wissen meist gar nicht, warum sie das überhaupt tun sollten.

Johanna Schwanberg: Wie können Museen erfahren, welche Bedürfnisse unterschiedliche Menschen haben, damit Museen für sie attraktiv werden?

Eva Böhm: Das Wichtigste ist eine gute Kommunikation mit den Sozialeinrichtungen. Am besten ist es natürlich, wenn Formate im Vorfeld gemeinsam entwickelt werden. Wenn Museen einen Schwerpunkt auf Menschen mit Hörbehinderung legen wollen, bekommen sie von uns einen Sensibilisierung-Workshop, in dem wir z.B. erklären, dass Gehörlose entweder nur mich als Dolmetscherin oder das Kunstwerk anschauen können. So wie man eine Führung bei hörenden Gruppen durchführt, funktioniert das bei Menschen mit Gebärdensprache nicht.

Sigrid Kundela: Bei der Gruppe, die ich vertrete, ist das ganz anders. Menschen mit einem Schädel-Hirn-Trauma können meist parallel hören und schauen, aber ich muss ihnen viel Zeit geben, um überdenken zu können, was erzählt wird. Bei dieser Gruppe können Sie nicht eine Stunde durchreden. Da braucht es immer wieder Pausen und auch Möglichkeiten, sich hinzusetzen.

Johanna Schwanberg: Offenbar geht es also nicht nur um Führungen, sondern auch um architektonische und kuratorische Aspekte, die von Anfang an Inklusion im Blick haben müssen?

Sigrid Kundela: Es geht um Vieles. Für mich braucht es viel mehr Sitzgelegenheiten in den Museen. Vor allem braucht es Wandtexte, die so geschrieben und aufgebaut sind, dass ich nicht bereits bei den ersten Zeilen aussteige. Viele Wandtexte in österreichischen Museen ergeben für uns keinen Sinn, weil sie viel zu lange und kompliziert sind. Auch wünsche ich mir für Menschen mit Schädel-Hirn-Trauma Vermittlungsprogramme, die sich auf einige wenige Kunstwerke konzentrieren und diese dafür genau und in Ruhe behandeln.

Monika Wagner: Manchmal sind es kleine Dinge, die es zu verändern gilt. So werden Führungen oft nur am Abend oder am Wochenende angeboten, aber es wäre für bestimmte Personengruppen eine Erleichterung, wenn es auch zu Mittag Führungen gäbe.

Eva Böhm: Als Kurator:in sollte man im Vorhinein überlegen, wie man eine Ausstellung so gestaltet, dass Menschen mit Behinderungen auch ohne Führung durchgehen können und sich wohlfühlen. Wichtig ist auch, dass Räume geschaffen werden, in denen es Sitzmöglichkeiten gibt. Vor allem aber, dass die räumliche Situation so beschaffen ist, dass mehrere Leute beieinanderstehen können und das Licht halbwegs passt. Ich habe Verständnis dafür, dass es lichtempfindliche Kunstwerke gibt, aber es braucht dennoch da und dort einen Raum, in dem die Sicht gut ist, denn ich kann nirgends in Gebärdensprache dolmetschen, wenn es ganz dunkel ist.

Johanna Schwanberg: Wie kommen Museen zu all diesen unterschiedlichen Informationen, die es zu bedenken gibt, um wirklich inklusiv zu werden?

Eva Böhm: Es bräuchte einen weiteren „Museums Guide Inklusiv“, der sich in dem Fall aber nicht an die potentiellen Besucher:innen sondern an die Museumscommunity richtet. In diesem Guide sollte alles drinnen stehen, was zu beachten ist, wenn man in einem Museum arbeitet und Inklusion im Blick hat.

Sigrid Kundela: Das Wichtigste ist, dass wir das Gefühl bekommen, dass wir gerne gesehen und unsere Bedürfnisse ernst genommen werden. Am schönsten ist es, wenn wir uns in Museen aktiv und kreativ einbringen können. Ich war letztens mit meiner Gruppe von Schädel-Hirn-Trauma-Menschen im Belvedere in der Hannah-Höch-Ausstellung, die bekanntlich Collagen gemacht hat. Bei der Führung wurde wie so oft viel zu viel an Information vermittelt, aber danach konnten wir in einem eigenen Raum aus Postkarten und Zeitungsausschnitten selbst Collagen erstellen. Das war großartig, denn plötzlich haben wir im Tun verstanden, worum es in der Kunst von Hannah Höch geht.

Johanna Schwanberg: Der größte Wunsch an die Museen ist also die Möglichkeit zu Partizipation und Mitsprache?

Monika Wagner: Es geht um länger andauernde Prozesse und ein sich wirklich aufeinander Einlassen, so wie es bei unseren „Kultur-Transfair“-Projekten seit Jahren der Fall ist. Besonders schön ist dies bei einem mehrmonatigen Projekt von arbeitssuchenden, jungen Frauen mit migrantischem Hintergrund im Dom Museum Wien geglückt. Hier ging es nicht darum, möglichst alles über eine Ausstellung zu erfahren. Vielmehr hat die Kunstvermittlerin die Frauen eingeladen, sich ein Kunstwerk auszusuchen, mit dem sie emotional am meisten anfangen können. Anschließend haben sie selbst Texte zu dem jeweiligen Exponat verfasst und daraus einen Podcast gemacht.

Johanna Schwanberg: Und diese Texte waren dann mittels QR-Codes in der Ausstellung selbst vor dem jeweiligen Kunstwerk auch zu hören.

Monika Wagner: Genau – das war eine ungemeine Wertschätzung dieser Menschen, weil plötzlich etwas von ihnen – etwas, das sie selbst geschaffen haben – in einem Museum im Zentrum von Wien zu hören war. Dadurch haben die jungen Frauen auch eine enge Verbindung zum Museum bekommen. Aber ehrlicherweise muss man sagen, dass solche Projekte sehr aufwendig sind.

Eva Böhm: Wenn man beginnt, die Geschichte der betroffenen Menschen in die musealen Prozesse miteinzubinden, dann funktioniert auf einmal viel mehr, als man sich möglicherweise erwartet hatte. Wir haben jetzt mit dem Fotoarsenal eine Foto Journey geplant, davon sollen zwei Stationen gehörlosenspezifisch sein – an Plätzen, die historisch für die Gehörlosen-Community große Bedeutung haben. Schön finde ich auch, dass das Wien Museum jetzt von sich aus bezüglich einer Ausstellung an den WITAF herangetreten ist, weil sie eine Station machen wollen, bei der es um den Wiener Dialekt geht. Dabei soll auch der Wiener Gebärdensprachedialekt eine Rolle spielen – er wird jetzt mit einem eigenen Videobeitrag in der Schau vertreten sein.

Johanna Schwanberg: Zentral in Bezug auf Inklusion ist also, dass sich verschiedene Communities bereits im Vorfeld in ein- und dieselbe Ausstellung einbringen können und die Ausstellungen durchmischt sind?

Eva Böhm: Es kann natürlich wertvoll sein, eine Ausstellung zur Diskriminierung der Gehörlosen auszurichten. Aber anschauen wird sich eine solche Präsentation in erster Linie wieder nur die Zielgruppe, die ohnehin weiß, dass sie von dieser Diskriminierung betroffen ist. Viel spannender sind Ausstellungen, die sich an alle Menschen richten und nur gewisse Bereiche etwa gehörlosenspezifisch sind.

Johanna Schwanberg: Frau Kundela, Sie haben als nach einem Unfall selbst Betroffene die Selbsthilfegruppe für Schädel-Hirn-Trauma-Patient:innen gegründet, mit der Sie häufig in Museen gehen. Was bedeutet ein Museumsbesuch für die Menschen, die Sie vertreten?

Sigrid Kundela: Menschen mit Schädel-Hirn-Trauma sind in Bezug auf ihre Interessen genauso unterschiedlich wie alle anderen Menschen auch. Die einen gehen gerne ins Museum, die anderen lieben Filme oder spielen Minigolf. Aber ein Museumsbesuch kann, wenn das Vermittlungsprogramm gut ist und sich auf unsere Bedürfnisse einstellt, schon etwas ganz Besonderes sein, weil viele Sinne angesprochen werden.

Johanna Schwanberg: Haben Museen ein besonderes Potenzial, wenn es darum geht, dass unsere Gesellschaft inklusiver wird?

Monika Wagner:  Museen haben eine enorm wichtige Rolle, aber die Verantwortung kann nicht bei den Museen allein liegen. Auch Vorschulen und Schulen haben den Auftrag, zu einer inklusiven Gesellschaft beizutragen. Vor allem brauchen Museen Unterstützung von der Politik in Form von besseren finanziellen Zuwendungen. Sie können mit den kostenintensiven Programmen und infrastrukturellen Maßnahmen, die es für ein inklusives Museum braucht, nicht allein gelassen werden.

Eva Böhm: Wir haben während der Corona-Zeit gesehen, was es mit den Menschen macht, wenn Kunst und Kultur wegfallen. In Museen lässt sich so viel über sich, die Gesellschaft und die Welt insgesamt lernen. Zudem ist es ein idealer Ort, um beispielhaft Inklusion zu leben. Wenn ich als Gebärdensprachendolmetscherin in einem Museum eine Eröffnung dolmetsche, kann dies nachhaltig wirksam sein, auch wenn keine gehörlose Person anwesend ist. Denn möglicherweise habe ich 350 Leute im Raum auf das Thema sensibilisiert, die anschließend nach Hause gehen und sich vielleicht fragen, wieso diese Zielgruppe so unsichtbar ist und was sie dazu beitragen können, um dies zu ändern.