„Nicht die Behinderung, sondern die Bedürfnisse stehen im Vordergrund“

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Interview mit Andreas Reichinger, Senior Research Engineer am VRVis Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung Forschungs-GmbH, Österreichs führender Forschungseinrichtung für anwendungsorientierte Forschung im Bereich Visual Computing

Zu sehen ist eine Nahaufnahme eines taktilen Reliefs, das mit zwei Händen berührt wird. Über dem Relief ist die Zeichnung zu sehen, die vom Relief in drei Dimensionen nachgebildet wird.
Nahaufnahme eines taktilen Reliefs des VRVis © VRVis

Museums Guide: Wir stehen hier in Ihrem Forschungsbüro, vor uns liegen eine Reihe von Reliefs in unterschiedlicher Abstufung und Qualität, anhand derer sich Ihre Forschungstätigkeit erläutern lässt. Können Sie uns den komplexen Entwicklungsprozess dahinter beschreiben?

Andreas Reichinger: Wir haben 2010 im Auftrag des Kunsthistorischen Museums begonnen, uns mit der Umsetzung von Kunstwerken in taktile Formen zu beschäftigen, um Menschen mit Sehbeeinträchtigungen den Zugang zur Kunst zu erleichtern. Status quo waren damals Schwelldrucke, wo auf einem speziellen Papier eine Haptik durch Beheizen erzeugt wird. Auch Braille- Drucker wurden eingesetzt. Dies waren sehr einfache und billige Behelfsmittel, die aber bei weitem nicht die vielen Dimensionen eines Kunstwerkes erspüren lassen konnten.

Uns hat zunächst die Frage beschäftigt, wie kann man das Tiefenempfinden, das Künstler:innen in ihren Gemälden herstellen, in einem gedruckten Reliefbild ermöglichen? Anhand der „Madonna im Grünen“ von Raffael habe ich dann eine Software geschrieben, mit der man die einzelnen Bereiche eines Gemäldes segmentieren kann, um ihnen unterschiedliche Ebenen der Tiefe zuzuweisen. Das ist nicht trivial, denn wenn man sich zum Beispiel die Arme der Madonna anschaut, wie sie das Kind umfasst hält, dann habe ich allein hier schon mehrere Ebenen und Übergänge zu berücksichtigen. Die im Original erzeugte Dreidimensionalität durch Hell- und Dunkeleffekte sowie Muster und Schattierungen werden im Programm durch Filter extrahiert, die der Wahrnehmung im menschlichen Auge nachempfunden sind und als Oberflächenvariationen im Relief aufgebracht werden. Wichtige Bereiche wie Gesichter, Körper und geometrische Objekte werden digital nachmodelliert und in das Gesamtbild integriert.

Museums Guide: Mit welchem Verfahren und auf welchem Material erfolgt die Herstellung des Reliefs?

Andreas Reichinger: Das am Computer erstellte Tiefenbild wird mittels computergesteuerter CNC-Fräsmaschine gefertigt. Dies hat gegenüber 3D-Druckern den Vorteil, hochqualitativere Ergebnisse zu liefern, und ich habe freie Materialwahl. Dies ist aktuell bezüglich Hygiene und Desinfizierbarkeit umso wichtiger. Zudem ist Fräsen in dieser Qualität und Größe noch immer günstiger und schneller. Auf Wunsch machen wir davon zusätzlich einen Negativabdruck in Silikon, den man dann wiederum in Kunststoff gießen und vielfach reproduzieren kann, was bei Gruppenführungen sehr beliebt ist.

Museums Guide: Was ist das Innovative an Ihrer Forschungstätigkeit, was unterscheidet Ihre Reliefbilder von manuell gefertigten Reliefs?

Andreas Reichinger: Die Inspiration unserer Reliefbilder geht auf die Bildhauerei zurück. Beispielsweise auf die Tradition der italienischen „Museo Tattile“, wo Gemälde oder auch Architekturmodelle für blinde Menschen nachgebildet werden. Eine britische Künstlerin formt Reliefbilder aus Ton nach, andere schnitzen sie aus Speckstein. Die handwerkliche Fähigkeit sowie persönliche Interpretationen entscheiden dann über das Ergebnis und die Qualität. Der Computer ermöglicht demgegenüber eine exakte Wiedergabe und reproduzierbare Ergebnisse, die auch jederzeit korrigiert werden können.

Museums Guide: Was ist der Mehrwert dieser Reliefs für das Museum?

Andreas Reichinger: Der Mehrwert geht weit über die Vermittlungsarbeit für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen hinaus. Mein Anspruch war von Anfang an, Reliefbilder am Computer herstellen zu können, die für alle Menschen, nicht nur für Personen mit Sehbeeinträchtigungen, interessant und aufschlussreich sind. Als das Relief der Raffael-Madonna erstmals im Kunsthistorischen Museum ausgestellt wurde, gleich neben dem Originalbild, haben fast alle Besucher:innen das Relief interessiert angegriffen und sich länger als üblich mit dem Gemälde beschäftigt. Das Relief ermöglicht einen anderen, zusätzlichen Zugang zum Kunstwerk, es eröffnet neue Perspektiven.

Museums Guide: Wie lange dauert die Entwicklung eines Reliefs?

Andreas Reichinger: Jedes Bild stellt uns vor eigene, neue Herausforderungen, dementsprechend unterschiedlich kann die Entwicklungsdauer sein. Insofern ist jedes Relief manuell erstellt, wenn auch am Computer. Beim allerersten Relief, dem Raffael-Relief, sprechen wir von Monaten, das hat im Rahmen eines Forschungsprojektes stattgefunden. Derzeit liegen wir bei 1 bis 2 Wochen. Ich schreibe zuerst ein „Treatment“, wie sehe ich das Bild, wie sieht es der Auftraggeber. Das erfordert eine tiefgehende Auseinandersetzung und oft auch Diskussionen. Denn die Beschreibung zum Bild beeinflusst die Qualität des Ergebnisses ganz wesentlich. Dann gebe ich die Beschreibung blinden Testpersonen. Aufgrund des Feedbacks wird zunächst ein erster grober Entwurf am Computer erstellt, dann kommt der Feinentwurf. Das Fräsen am Ende dauert zwischen 12 und 24 Stunden.

Museums Guide: Mittlerweile produzieren Sie ja für viele Museen.

Andreas Reichinger: Wir sind immer wieder Partner in EU-Forschungsprojekten, arbeiten aber auch als direkter Auftragnehmer von Kunst- und Kulturinstitutionen. Zu unseren Referenzmuseen gehören neben dem Kunsthistorischen Museum etwa auch das Technische Museum, das Belvedere, das Dommuseum Wien oder das Graz Museum Schlossberg. Unsere Reliefe sind aber auch europaweit ausgestellt, beispielsweise im Museo de Bellas Artes de Asturias, im Victoria & Albert Museum, im Museo Thyssen-Bornemisza, in der Wallace Collection, im Museo Lazaro Galdiano, in der Berlinischen Galerie, oder im Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg.

Museums Guide: Wie ist das Feedback der Besucher:innen?

Andreas Reichinger: Eine Begegnung, die mich besonders berührt hat, war eine Dame, die uns unter Tränen gedankt hat. Sie sei immer eine Kunstliebhaberin gewesen, bevor sie erblindet ist, und dachte, dass für sie die Tür zur Kunst nun verschlossen sei. Durch unsere Arbeit habe sich diese Tür wieder geöffnet. Für unseren Forschungsbeitrag zu mehr Inklusion sowie unsere inklusiven Kunstlösungen wurden wir mit mehreren Preisen ausgezeichnet, beispielsweise dem Heritage in Motion-Award 2020 oder dem WSA Austria Award 2020.

Museums Guide: Was ist der nächste Schritt, die nächste Entwicklung?

Andreas Reichinger: Ein weiterer Forschungsbereich ist taktile Fotografie, wo wir es sehbeeinträchtigten Personen in Workshops nicht nur ermöglichen selbst zu fotografieren, sondern die Fotos dann auch in Relief ausarbeiten, inklusive einem neuartigen Reliefdrucker. Unser Hauptaugenmerk liegt aber gerade im Sinne von „Design for all“ in neuen Vermittlungswegen: Wir haben in einem dreijährigen EU-geförderten Forschungsprojekt einen taktilen, interaktiven Multimedia-Guide entwickelt, der nicht nur Menschen mit Sehbeeinträchtigungen dient, sondern unterschiedlichste Bedürfnisse berücksichtigt. Auf einem Bildschirm mit einer eingebauten Kamera, die das Abtasten eines Reliefs erkennt, kann zwischen vielfältigen Informationskanälen und Wahrnehmungsmöglichkeiten gewählt werden: Projektionen und Animationen in Farbe, Darstellungen als Geräusche, Audio-Erläuterungen, Beschreibungen in Gebärdensprache und in Leichter Sprache, Hintergrundinformationen und vieles mehr – also ein Guide für alle, auch für Menschen ohne Beeinträchtigungen. Das ist mir wichtig! Jeder soll und kann mit seinen Bedürfnissen berücksichtigt werden. Nicht die Art der Behinderung steht im Vordergrund, sondern die unterschiedlichen Bedürfnisse.

Kontakt:
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